REZENSIONSEXEMPLAR, AFFILIATE LINKS*
Zwischen der eigenen Kindheit und dem Erwachsenwerden gibt es einen Raum, in dem wir immer sieben oder zwölf oder vierzehn bleiben. Je nachdem ist dieser Raum mal erleuchtet von Magie, mal fallen Sonnenstrahlen schräg durchs Fenster und mal kommen die Monster aus den Ritzen unterm Bett hervorgekrochen.
Neil Gaimans Erzähler aus DER OZEAN AM ENDE DER STRASSE hat diesen Raum offenbar ziemlich lange nicht betreten. Er macht, was man in einem Erwachsenenleben jenseits der Vierzig so macht – zum Beispiel für eine Beerdigung in den Ort seiner Kindheit fahren und danach die Zeit in der alten Nachbarschaft totschlagen.
Der Weg des Erzählers, der keinen Namen hat – vielleicht, weil er nun mal jede:r von uns sein könnte – führt ihn zu einem Haus, in dem er die meisten Jahre seiner Kindheit und Jugend verbracht hat. Das Haus ist längst abgerissen, aber der Weg ist noch da. Und wie das halt so ist auf alten Wegen, ziehen sie einen förmlich in die Richtung, die man immer schon gegangen ist, als wären irgendwo unter dem ganzen Sand und Schotter immer noch die eigenen Fußspuren begraben.
Fußspuren und Erinnerungen.
Dieser Weg in Sussex führt unseren Erzähler zum Hof am Ende der Straße, der so alt ist, dass er scheinbar aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Dort lebte Lettie Hempstock mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Lettie, die behauptete, dass der Ententeich hinter dem Haus der Hempstocks eigentlich ein Ozean ist. Und auf einer Bank am Rande dieses Ozeans fängt der Erzähler an sich zu erinnern.
Wie durch ein Zeitloch werden wir hineingezogen in die Welt seines siebenjährigen Ichs und erleben einen Jungen, der in seiner Familie und Umwelt eine ganze Menge an Widrigkeiten einzustecken hat, angefangen damit, dass keiner zu seinem siebten Geburtstag kommt. Die kindliche Isolation wird noch verstärkt durch schier überwältigende Tuschezeichnungen, welche das Kind inmitten eines Strudels aus Schatten und Gefühlen zeigen.
Da Kinder im Moment leben, blitzen immer wieder kurz Ereignisse auf, wie etwa die Tatsache, dass irgendwann ein Untermieter in das Zimmer des Erzählers zieht, da dessen Eltern offenbar mit Geldsorgen zu kämpfen haben. Als den Untermieter ein tragisches, kurioses Ende in der Nähe der Hempstock-Farm ereilt und der Junge Lettie Hempstock kennenlernt, wird er in ein Abenteuer verstrickt, das nicht von dieser Welt zu sein scheint.
Erwachsenwerden auf Gaiman-Art.
Neil Gaiman Erzähler in DER OZEAN AM ENDE DER STRASSE lernt, dass es für Erwachsene ein wahrer Fluch sein kann das zu bekommen, was man sich wünscht. Er lernt, dass vielleicht nicht jede Familie böse Kreaturen bannen kann, aber die Hempstocks das offenbar schon seit Anbeginn der Zeit tun. Er entdeckt, dass böse Mächte von Zeit zu Zeit mit schönen Gesichtern daherkommen. Und er trinkt den besten Tee seines Lebens.
Bildschön. Lesen!
Es würde mir im Traum nicht einfallen, hier die Geschichte wiederzugeben, die sich in Neil Gaimans Buch ereignet. Letztendlich ist sie auf der einen Seite viel zu fantastisch und auf der anderen Seite zählen Ereignisse sowieso immer weniger als das Gefühl, das sie auslösen. Das glasklare Gefühl, unter der Oberfläche eben immer noch dasselbe Kind zu sein. Mit einem ganzen Ozean in uns, aus dem wir schöpfen können. Große Leseempfehlung.