April 2019. Ich sitze in einem Seminarraum im Ruhrgebiet, und langsam trudeln die Leute ein. Wir alle wollen einen Buchblog starten und ein paar Basics vom Kaffeehaussitzer lernen. Der heißt eigentlich Uwe Kalkowski, ist einer der bekanntesten deutschen Literaturblogger und hat mehr Twitter-Follower als Brecht damals Freundinnen hatte. 2017 hat Uwe den ersten Deutschen Buchblog-Award abgeräumt. Davon abgesehen ist er ein Mensch, mit dem man gerne Freundschaft schließt.
Als Uwe und ich nach einem großartigen Seminar gemeinsam zurück in Richtung Köln fahren, fühle ich mich wieder mal in meiner Ansicht bestätigt, dass man nicht gleichzeitig Bücher lieben und kein interessanter Mensch sein kann. Für mich ist Uwe Kalkowski überdies einer der wenigen Menschen, die mir ein Buch in die Hand drücken können, ohne dass ich innerlich mit den Augen rolle. Alleine WASHINGTON BLACK oder UNTER UNS DAS MEER waren Buchtipps, für die ich unglaublich dankbar bin.
Uwe hat eben dieses Buchhändler-Gen, die richtigen Menschen mit den richtigen Büchern zusammenzubringen. Was er sonst noch so als Buchmensch und Kaffeehaussitzer macht, erfährst du im folgenden Interview.
Magst du dich mal kurz vorstellen?
Ich bin Uwe und als 1969 Geborener habe ich in meiner frühesten Kindheit noch die letzten Dampflokomotiven erlebt. Seitdem hat sich die Welt grundlegend verändert, aber die Liebe zu den Büchern und zum gedruckten Wort begleitet mich seit dieser Zeit und ist die große Konstante in meinem Leben. Es ist daher kein Wunder, dass die Buchbranche auch mein berufliches Zuhause geworden ist. Wobei das eigentlich ein Zufall war:
Als ich nach dem Zivildienst nicht wusste, was ich eigentlich machen möchte, hielt ich mich drei Jahre mit einem Job als Altenpflegehelfer in Freiburg über Wasser. Nebenbei hatte ich begonnen, etwas lustlos Sozialarbeit zu studieren. Irgendwann im späten Frühjahr 1992 traf ich einen Bekannten, der mir erzählte, dass er gerade sein Studium geschmissen habe, um nun eine Buchhändlerlehre zu machen. Das war einer dieser Tage, die ein Leben prägen und die man nie vergisst. Es war ein Gefühl, als hätte jemand einen Vorhang auf die Seite gezogen; am nächsten Tag brach ich auch mein Studium ab und kümmerte mich um einen Ausbildungsplatz. Das war es dann – so bin ich in einer Branche gelandet, zu der ich bis heute mit Haut und Haaren gehöre. Erst als Buchhändler in großen und sehr kleinen Buchhandlungen, dann – nach dem Studium der Verlagswirtschaft in Leipzig – in verschiedenen Verlagen in Köln. Seit August 2019 arbeite ich für den Eichborn Verlag und kümmere mich dort um die Vermarktung der Bücher.
Seit wann bist du der Kaffeehaussitzer?
Mit einem Buch lesend in einem Café sitzen kommt für mich der Vorstellung vom Paradies schon sehr nahe. Ich liebe diese Atmosphäre, das Rauschen der Kaffeemaschine, das leise Gemurmel der anderen Gäste, den Milchkaffee vor mir und das Buch in meiner Hand. Der Schriftsteller Alfred Polgar hat das einmal wunderbar auf den Punkt gebracht: »Ins Kaffeehaus gehen Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.«
Das ist im Berufsalltag heute leider nicht allzu häufig möglich, aber in jener Zeit als Altenpflegehelfer Anfang der Neunziger hatte ich Schichtdienst und habe tatsächlich einen immens großen Teil meiner freien Nachmittage in Freiburger Cafés verbracht. Immer mit einem Buch.
Daher war es nur konsequent, meinen Literaturblog »Kaffeehaussitzer« zu nennen, als er im Juni 2013 online gegangen ist. Diesen Domainnamen hatte ich mir schon viele Jahre vorher reserviert, weil er mir so gut gefiel. Gleichzeitig war es schon immer eine meiner großen Leidenschaften, über Bücher mit anderen zu sprechen, meine Begeisterung für manche Titel so vielen Menschen wie möglich weitergeben zu wollen. Als ich dann auf die Idee kam, mich einmal an einem Literaturblog zu versuchen, war natürlich klar, wie dieser heißen sollte. Und ich kann mich gut daran erinnern, wie aufregend es war, den allerersten Blogbeitrag freizuschalten. Was sich daraus alles ergeben sollte – viele Kontakte zu sympathischen Menschen, Pressereisen, die Auszeichnung mit dem ersten Buchblog-Award auf der Frankfurter Buchmesse 2017, Juryarbeit für den Deutschen Buchpreis 2018, eine eigene Kolumne auf BuchMarkt.de und letztendlich auch mein jetziger Job – das hätte ich mir damals nicht im entferntesten vorstellen können.
Du arbeitest seit 25 Jahren in der Buchbranche und bist ständig von Büchern umgeben. Wärst du manchmal lieber Schreiner, Boxer oder Florist?
In einem Café in Köln steht groß an der Wand geschrieben »Das gleiche Leben noch einmal, nur anders.« Als ich das vor ein paar Jahren gesehen habe, saß ich an meinem Tisch und dachte darüber nach, anstatt zu lesen, wie ich es eigentlich vorhatte. Was würde ich anders machen wollen? Eine richtige Antwort habe ich darauf nicht gefunden, zumal ich in fast alle Entscheidungen in meinem Leben etwas planlos hineingestolpert bin.
“Planen halte ich für maßlos überschätzt, wichtig ist es, im richtigen Moment »ja« oder »nein« zu sagen. Und diesen Moment auch zu erkennen.”
Uwe Kalkowski, Kaffeehaussitzer
Doch um auf die Frage zurückzukommen: Ja, einen Job gibt es, den ich mit der heutigen Erfahrung vielleicht wählen würde, wäre ich noch einmal Anfang zwanzig. Restaurator. Buchrestaurator, um genau zu sein. Die Kombination von akademischem Wissen und handwerklichen Können finde ich großartig. Ebenso die Faszination, stets mit Büchern zu tun zu haben, die bereits jahrhundertelang durch die Geschichte gereist sind.
Bist du einer dieser Menschen, die Freunden zu jedem Anlass Bücher schenken?
Im Prinzip ja, aber bei Freunden, die mit Büchern einfach nichts anfangen können (ja, die gibt es …) verkneife ich mir das dann doch. Bei mir zuhause liegt aber immer ein Stapel aussortierter Bücher bereit, an dem sich Besucher und Nachbarn bedienen können.
Auf Kaffeehaussitzer stellst du Textbausteine bzw. Buchzitate vor, die eine besondere Bedeutung für dich haben. Gibt es sowas wie das ultimative Zitat in deinem Leben?
Mein Lieblingszitat aus allen Büchern, die ich kenne, sind die beiden letzten Sätze in Sven Regeners »Herr Lehmann«. Dort steht: »Ich gehe erst einmal los, dachte er. Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.« Für mich die perfekte Lebensphilosophie, der ich zwar ein paar Umwege, aber viele spannende Erfahrungen verdanke. Dabei fällt mir gerade auf, dass genau dieses Zitat in der »Textbausteine«-Rubrik fehlt. Aber dafür war »Herr Lehmann« das erste Buch, das ich im Blog vorgestellt habe.
Welches Buch empfiehlst du Menschen, die nicht lesen?
Gute Erfahrung habe ich mit dem Roman »Tuareg« von Alberto Vázquez-Figueroa gemacht. Es ist 1981 erschienen, immer noch lieferbar und eines der spannendsten Bücher, das ich jemals gelesen habe. Im Blog heißt es dazu: »Selten habe ich erlebt, wie der Spannungsbogen in einem Buch direkt zu Beginn der Handlung nach oben schnellt, dort mit Ausnahme weniger kurzer Momente, in denen der Leser etwas Luft holen kann, auch bleibt und sich zu einem überraschenden und furiosen Ende steigert.« Und mit dieser Spannung kriegt der Autor auch Nicht-Leser …
Bücher, die du vorstellst, haben oft Themen wie Entwurzelung oder Krieg, der Tragödie des Holocaust hast du dein Leseprojekt »Das Unerzählbare« gewidmet. Was fesselt dich an Literatur gegen das Vergessen?
Mir ist irgendwann klar geworden, wie sehr die Erinnerungskultur dabei ist, sich zu verändern. Die finsteren Jahre des »Dritten Reiches« rücken immer weiter in die Ferne, die allerletzten Zeitzeugen werden in den nächsten Jahren sterben. Eine faschistoide Partei sitzt im Bundestag, weltweit scheint rechtes Denken wie Schlamm aus Ritzen im Boden zu steigen. Gleichzeitig ist es erschreckend, wie wenig viele junge Menschen über die Shoa und die unfassbaren Verbrechen wissen, die von ihren Vorfahren verübt wurden. Die G8-Gymnasialschüler, die 2020 von der neunten Klasse in die Oberstufe gewechselt sind und Geschichte abgewählt haben, dürften durch die Corona-Unterrichtseinschränkungen so gut wie nichts über den Holocaust vermittelt bekommen haben. Eine Wissenslücke, die ich weitaus erschreckender finde, als wenn jemand noch nie etwas von den Binomischen Formeln gehört hätte. Und deshalb spielt Literatur eine umso wichtigere Rolle, um zumindest die literaturaffinen Menschen für diese dunkle Zeit zu sensibilisieren, ihnen einen Zugang zu einer Vergangenheit zu schaffen, die unsere jetzige Welt geprägt hat wie kaum ein anderes Ereignis. Dabei geht es nicht um Schuld, sondern um Verantwortung für die Zukunft.
Dabei hat mich besonders gefreut, dass mich die Kinder- und Jugendbuchautorin Ute Wegmann mich bei meinen Leseprojekt »Das Unerzählbare« unterstützt und eine weitere Lektüreliste speziell für junge Leser beigesteuert hat.
Auf was könntest du eher verzichten, auf Twitter oder Kaffee?
Twitter ist zwar der wichtigste Traffic-Bringer für den Blog Kaffeehaussitzer, aber ein Leben ohne Kaffee? Never.
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