REZENSIONSEXEMPLAR
Das, was ich aus meinen späten Zwanzigern noch am besten erinnere, ist dieses ständige Gefühl der kultivierten Leere. Kultiviert deshalb, weil wir tages- und nachtfüllend in Bars und Cafés und Agenturen rumgehangen haben, rauchend und trinkend und tanzend und immer halb in das nächste Gespräch vertieft. Leer deshalb, weil Beziehungen zwar interessant, aber selten so innig waren wie das darauf folgende Trennungs-Verarbeitungs-Gespräch mit den besten Freundinnen. Der Hauptfigur in Dolly Aldertons Roman GESPENSTER geht es da nicht sonderlich anders, nur dass Alderton, der Shootingstar der britischen Literaturszene, ihr eine Datingapp an die Hand gibt, die nun bitte wie in jedem Liebesroman das Happy End herbeiführen soll. Haha, naja, so einfach ist das dann nun auch wieder nicht.
Zur Story.
Die gefragte, zweiunddreißigjährige Food-Autorin Nina George Dean, die ihren zweiten Vornamen einem Hit von Wham! zu verdanken hat, begibt sich nach einer langjährigen Beziehung wieder auf die Suche nach der großen Liebe. Direkt bei ihrem ersten Date gerät sie an Max, der das Zeug zum Traummann hätte – wäre da nicht die Tatsache, dass er so schnell wieder aus Ninas Leben verschwunden ist, wie sie ihn mittels Dating-App kennengelernt hat. Man soll eben keinem trauen, der einem an der Bushaltestelle die große Liebe verspricht.
“Zeitgeisty comic novel about thirtysomething life.”
The Guardian über Dolly aldertons “Gespenster”
Sei es drum: Während Ninas Herz nicht so recht weiß wohin, realisiert Nina, dass weit mehr zum Erwachsensein dazugehört als nur ein ernst zu nehmender Job und eine Eigentumswohnung in London, die man sich sogar selbst leisten kann. Denn auch Ninas Vater verabschiedet sich, allerdings auf eine viel tragischere Weise: Dem demenzkranken Professoren entgleitet langsam der Alltag, und keiner kann etwas dagegen machen.
Auf einmal ist Nina in der Rolle der Erwachsenen, während die Eltern spontan auch gerne mal zu kindischen Aktionen neigen. Ninas Mutter wechselt ihren Vornamen, weil sie schon immer lieber anders heißen wollte, und ihr komplettes Verhalten hat was zwischen zweitem Frühling und trotziger Jugendlicher. Und auch Ninas Freundeskreis ist alles andere als eine sichere Bank, wenn man sich mal eben ausruhen bzw. ausheulen will.
Alle im Buch (bis hin zum italienischen Horrornachbarn) sind sehr zeitgeistig verzweifelt oder auch mal fast glücklich, je nachdem aus welcher Perspektive man das Ganze gerade betrachtet. Ninas Freundin Lola ist der obligatorische, geflippte Dauersingle, der offenbar in jeder englischen Komödie vorkommen muss. Sie erinnert mich an Notting Hill oder Vier Hochzeiten und ein Todesfall. Diese eine, bei der man keinen Grund hat, sie nicht zu lieben. Muss man es dann tun?
Ninas älteste Schulfreundin Katherine hingegen hat mit den Freuden des Mutterseins zu kämpfen, welche sie sehr viel wichtiger nimmt als demenzkranke Angehörige oder gebrochene Herzen kinderloser Freundinnen. Ninas Exfreund Joe plant derweil seine Hochzeit und brilliert als Ninas bester Kumpel. Eigentlich möchte man tausend Nächte mit ihm im Pub versumpfen und seine neue Freundin mit dem Auto überfahren, damit sie mal einen anderen Gesichtsausdruck macht. Alles sehr echt, kenn ich, war so, ich schwöre. Überhaupt ist die ganze Story ehrlich, charmant, intelligent und von sprühendem Witz. Den unglaublichen Tiefgang, den die sich überschlagende Kritik allerdings hineindeutet, hab ich nicht gefunden – nicht dass er mir gefehlt hätte.
Fazit: Irgendwo zwischen Glück und Gin Tonic.
Dolly Aldertons GESPENSTER ist ein smartes, zeitweise bewegendes Buch über alle möglichen Arten und Unarten moderner Beziehungen. Diese, die dich hoffen lassen und diese, die dich erwachsen werden lassen. Modern. Cool. Lesen!
Zum Buch und zur Autorin:
Dolly Alderton ist eine mehrfach ausgezeichnete Bestseller-Autorin, Journalistin, Speakerin und Starkolumnistin der Sunday Times. Ihr Podcast THE HIGH LOW wurde als wegweisend für die Popkultur und Spiegelbild der weiblichen Millenials beschrieben. Zum Buch: Originaltitel “Ghosts”, aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné, erschienen am 02. Februar 2021 im Atlantik Verlag. 384 Seiten, Pappband mit Schutzumschlag.
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