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Krass, denke ich auf Seite 26. Ich kenne keinen außer mir, der jemals Nierensteine hatte, geschweige denn davon fast ins Jenseits befördert worden wäre. Jetzt gibt es plötzlich auch Rahel aus WIR VON DER ANDEREN SEITE. Neben ihr sehen meine läppischen drei Wochen Krankenhaus plus Blutvergiftung allerdings aus wie ein Strandspaziergang im Sonnenuntergang:
Künstliches Koma, Intensivstation, Herz im Eimer, Kack-Reha, Job auf der Kippe, Langzeitfreund vielleicht Wackelkandidat.
Das ist mehr als genug, um genervt aufzugeben, aber in Anika Deckers Buch auch zum Schreien komisch. Davon abgesehen ist es so überragend direkt geschrieben, dass die niederrheinische Frohnatur in mir nicht nur einmal glücklich aufseufzt.
WIR VON DER ANDEREN SEITE ist Anika Deckers erster Roman, deren Drehbuchdebüt Keinohrhasen ihre Geschichten direkt in die Kinos katapultierte. Auch dieses Debüt ist irgendwo eine Komödie, die sich allerdings aus der totalen persönlichen Katastrophe der Hauptfigur heraus entwickelt, Parallelen zum Leben der Autorin inklusive.
Zur Story:
Als Drehbuchautorin Rahel nach Komplikationen aufgrund der besagten Nierensteine aus dem künstlichen Koma erwacht, ist alles in ihrem Leben anders oder nicht mehr vorhanden – so wie Ihr Aussehen, die Parties, die Abgabetermine oder ihre Fähigkeit, alleine auch nur einen Löffel hochzuheben.
“Natürlich kann ich so einen Minilöffel halten. Die Schwester seufzt und legt meine Finger um den Griff. Dann lässt sie los, und es macht klack. Der verdammte Löffel ist mir einfach aus der Hand gefallen. … Falls ich sterben sollte, könnte ich noch nicht mal den Löffel abgeben, sagt mein albernes Ich.”
Das verrückte Eichhörnchen, das Rahel fortan auf der Bettkante erscheint, ist ebenfalls kein gutes Zeichen für ihren Allgemeinzustand. Sie sieht Sachen, die nicht da sind, kann sich aber an fast nichts erinnern, was in den letzten Tagen ihres gesunden Lebens passiert ist. Zu Denken gibt ihr, dass sich sowohl Rahels herrlich schräge Familie als auch ihr Vorzeigefreund Olli damit zurückhalten, Licht ins Dunkel zu bringen.
Aber Rahel muss sich sowieso erst einmal auf ihre Gesundheit konzentrieren und lässt den Leser fast tagebuchartig an ihrem Alltag im Krankenhaus und in der sich anschließenden Reha teilhaben, die allerdings eher so rüberkommt, wie ich mir eine ehemalige Stasi-Überwachungszentrale, gepaart mit dem westlichen Schlager- und Schnitzelwahnsinn aus meiner Kindheit vorstelle. Die Situationen auf dem Weg der Kassenpatienten-Gesundwerdung sind dabei teils slapstickartig komisch, die Beschreibungen des Krankenhausalltags einfach Weltklasse, und die inneren Dialoge treffen mitten ins Herz.
Heraus kommt eine lustige Kampfschrift der totalen Lebensfreude, ein Pamphlet der Freude, eine Ode an die Schwestern aller Intensivstationen, die Mutter aller Mutromane.
Ein absolutes Muss für diejenigen, die Girlfriend in a Coma von The Smiths genauso lieben wie ich und gerne dabei sind, wenn sich eine Frau im Bademantel ihr Leben zurückholt. Überlebenskampf trifft sensationell lässige Schreibe. Mehr geht eigentlich nicht.
Titel: Wir von der anderen Seite
Autor: Anika Decker
Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
Verlag: ullstein Verlag
Auflage: 4. (26. Juli 2019)